Sommer und längere Geschichten: Neuauflage Taschenbuch!
Zwanzig Jahre bis Hamburg
Mit ihrem Messer fuchtelt sie vor meinem Gesicht herum. Ich drücke mich in die Lehne des Polsters. Stelle weiter meine Fragen, die vierte, die fünfte Frage, jede bisher ohne Wirkung. Die nächste scheint endlich die richtige zu sein, denn die Frau lehnt sich zurück und deponiert das Messer in ihrer Rockfalte. Sie wolle den Namen des Ortes nicht nennen, weil man Orten nichts schulde, antwortet sie mir, schaut mir sehr gerade ins Gesicht und rückt den Kragen ihrer Bluse zurecht und das Revers ihres Trachtenblazers, als sei ich ein Spiegel. Man schulde Menschen etwas: Zuwendung, Geld, ein offenes Wort. Nicht aber einer Versammlung von Häusern, die sich um einen Kirchturm krümmen. Sie lacht. Andererseits sei ein Mensch nichts wert ohne Ort: Mensch und Haus, das sei wohl das Grauen, aber auch höchstpersönlicher Identifikationsstatus. Ohne Haus sei der Mensch ein Entwurzelter: hilflos. Ein Reisender an einer toten Bahnstrecke: nackt. Ich beuge mich vor, um ihre Wurzel zu suchen, die ich mir aus ihren Füßen sprießend vorstelle, um nun in der Wärme des Abteils zu verdorren, doch: nichts. Nur braune Schuhe und der geschwollene Mittelfuß, wie er für übergewichtige Frauen typisch ist.
Jetzt raucht sie. Sie raucht, und ich starre sie an. Nicht weil sie nicht vorschriftsmäßig geraucht hätte – den Filter an die Lippen, den Rauch in Anbetracht des Gegenübers an die Decke –, sondern weil mir ihr Rauchen so unstatthaft vorkommt, als balancierte sie eine Dynamitstange zwischen den Fingern. „Größe 44“, sagt sie, denn sie bezieht mein Starren auf ihr Kostüm und ihre gedrungene Statur. Ich erröte, obwohl es für mich nichts zum Erröten gibt, empören sollte ich mich stattdessen, ich erröte also und sage: „Nein, das ist es nicht“.
...
Kurzgeschichten, Gedichte, ein Monolog (zum Nachspielen).
Humorvolles, Nachdenkliches, Literarisches.
Gesellschaftskritische, satirische, skurrile Texte. Oder: einfach zum Vergnügen.
Eine bunte Palette, entstanden in über 20 Jahren Schreiben.
Inhalt:
Sommer
Der Besuch
Zwanzig Jahre bis Hamburg
Südafrika – Erzähltriptychon mit fehlerhafter Pietà
Die Linde
Regen
Die Tasche
Kerwetod
Schreiben Sie!
Das Schweigen des Herrn K.
Rosenkreuze
Glaubensfrage. Ein Monolog vor Zeugen
Nachtlicht
Keine Kunst
Frohe Weihnachten
Herbstzeit
Wort: Los!
Nachts beschütz' ich dich
Ich gehe zu Fuß
"Rosenkreuze" kam in die engere Wahl beim 1. Josef-Breitbach-Preis (Thema: Fremd in unserer Mitte). Der Text wurde veröffentlicht im 1. Rheinland-pfälzischen Jahrbuch für Literatur.
Barbara Krauß erhielt für die Arbeit an ihrem Roman "Vincent. Stationen eines Abschieds" den Martha-Saalfeld-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz.